Wohnungsnot
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Jolanda Steiner wird am Zuger Märlisunntig die Kinder mit ihren Geschichten einmal mehr verzaubern. Foto: zvg
Am Sonntag, 10. Dezember, findet zum 40. Mal der Zuger Märlisunntig statt. Seit vielen Jahren dabei ist die Luzerner Märchenerzählerin Jolanda Steiner. Sie nimmt uns mit auf eine fantastische Reise, die Realitätssinn voraussetzt.
Welches ist Ihr persönliches Lieblingsmärchen?
Eigentlich ist es immer das, mit dem ich mich gerade auseinandersetze. In meiner Kindheit war es Hans Tollpatsch. Hans wird ausgelacht, er muss Aufgaben bestehen, am Schluss wird er König. Mir gefallen Märchen, in welchen Zuversicht, Humor und Wunder vorkommen.
Die berühmte Trudi Gerster hiess in der Öffentlichkeit «Schweizer Märlitante». Sie selbst fand diese Bezeichnung sehr abwertend. Wie lautet die korrekte Bezeichnung?
Früher war der Begriff Tante positiv geprägt. Dann kamen negativ gefärbte Begriffe wie «Quasseltante» oder «tantig». Ich persönlich mag den Begriff «Märlitante» oder «Märchenonkel» auch nicht. Wir sind Märchenerzähler und Märchenerzählerinnen.
Wie ist aus Jolanda Steiner eine Märchenerzählerin geworden?
Ich habe schon als Sechsjährige andere Kinder mit Kasperlitheater unterhalten. Bereits damals liebte ich es, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Ich habe dann den Beruf der Kindergärtnerin gewählt. Vor 40 Jahren wurde ich von Radio Pilatus angefragt, ob ich in einer regelmässigen Sendung Märchen erzählen möchte. Es folgten Tonträger, öffentliche Auftritte, Regiearbeit bei diversen Märchenprojekten. Ich schreibe Geschichten und so ergab sich das eine und andere.
Was macht eine gute Märchenerzählerin aus?
Es ist ein Wechselspiel zwischen Fantasie und der Realität. Man muss die Fähigkeit haben, in eine andere Welt einzutauchen und gleichzeitig ganz wachsam dem Publikum gegenüber sein. Während ich beim Erzählen in unzählige Rollen schlüpfe, darf ich während des Erzählens den Bezug zur realen Welt nicht verlieren, muss die Reaktionen des Publikums wahrnehmen und einschätzen können. Wenn ein Kind bei der Geschichte etwas nicht versteht, kann es sein, dass es eine Frage stellt. Dann versuche ich, ohne den Fluss der Erzählung zu unterbrechen, abzuschätzen, ob es sehr wichtig ist oder ob das Kind bis zum Schluss warten kann. Ab und zu genügt es, dem Kind zu zeigen, dass ich seine Frage gehört habe. Man muss die Geschichten verinnerlichen, nur so kann man sich während des Erzählens auf verschiedene Ebenen bewegen, das Publikum wahrnehmen und gleichzeitig in Bann ziehen.
Wie bereiten Sie sich auf einen Erzählevent wie den Zuger Märlisunntig vor?
Egal ob für ein Publikum von 15 Kindern oder wie vor kurzem im ausverkauften Schauspielhaus Zürich: Es braucht eine seriöse Vorbereitung. Ich erstelle am Computer ein Mundartskript. Das ist zeitintensiv, aber für mich wichtig. Jedes Projekt setzt eine andere Vorbereitung voraus. Bei meinen Soloprogrammen braucht es keine Probe. Im Gegensatz zu Projekten mit Orchester.
Wie entscheiden Sie, welche Geschichten Sie vortragen?
Wenn ich das Programm selbst bestimmen kann, überlege ich etwa einen Monat vor der Veranstaltung, welche Märchen ich vortragen will. Ich kläre ab, ob der Veranstalter einen Wunsch hat oder vielleicht ergibt sich durch die Jahreszeit oder den Auftrittsort ein Thema. Bei Projekten mit Musiker und Musikerinnen ist eine gute Absprache zwingend. Es kommt auch vor, dass sich die Voraussetzungen kurzfristig ändern und ich improvisieren muss. In solchen Fällen kann ich von meinem grossen Repertoire profitieren.
Wenn wir von Märchen sprechen, dann denken wir unweigerlich an die Gebrüder Grimm, Hans Christian Andersen oder Wilhelm Hauff. Warum ist das so?
Ich denke, dies hat unter anderem auch einen kommerziellen Hintergrund. Trudi Gerster erzählte diese Märchen in den Medien und auf Tonträgern. Dann gibt es die Disney-Filme wie Schneewittchen, Arielle die Meerjungfrau, Klassiker wie Die drei Nüsse für Aschenbrödel, welche weit verbreitet sind. Die Grimm-Märchen haben ausserdem einen schlichten Erzählstil. Die Kinder verstehen diese Märchen sehr gut. Die Grimmsammlung umfasst 200 Märchen. Viele von uns kennen jedoch höchstens 10 davon. Es sind vorwiegend jene, die einen gradlinigen Handlungsstrang haben und wir uns gut merken können. Märchen von Hans Christian Andersen, als Beispiel «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern», sind eher schwermütig und traurig. Märchen aus China oder dem Orient haben eine Färbung, die uns oft fremd erscheint. Das gilt auch für die Märchen aus dem hohen Norden oder aus Afrika.
Aus welchem Um- und Kulturkreis besteht Ihre Auswahl?
Ich wähle gerne Schweizer Märchen. Das Märchen «Vogel Gryff» ist eines davon. Es stammt aus dem Aargau und wurde in die Sammlung der Gebrüder Grimm aufgenommen. Ich bevorzuge Märchen, die unserem Kulturkreis nahe sind. Doch ich stelle länger je mehr fest: Kinder kennen Begriffe wie Spinnrad, Karde, Getreidemühle und andere in den Märchen vorkommende nicht mehr. Ab und zu erzähle ich Märchen aus anderen Kontinenten. Kürzlich war es «Aladin und die Wunderlampe» mit dem Zürcher Kammerorchester oder «Der kleine Muck», mit der Musikerin Vera Kaa und Band. Auch diese Märchen gestalte ich so, dass sie eine klare Struktur bekommen und von jüngeren Kindern gut verstanden werden.
Märchenerzählungen sind vielfach sehr alt. Eine Urversion von «Der Wolf und die sieben jungen Geisslein» soll schon im ersten Jahrhundert nach Christus erzählt worden sein. Warum verlieren Märchen ihren Reiz über all die Zeit nicht?
Der Wolf ist in diesem Märchen Sinnbild für Gier und Täuschung. Und die Ziegenmutter rettet ohne Zögern ihre Kinder aus dem Wolfsbauch, sie liebt ihre Kinder und ist eine mutige. In den Märchen kommen viele Archetypen vor. Märchen sind voller Metapher und sprechen eine Bildsprache, welche von Kindern gut verstanden wird. Als meine Tochter klein war, wollte sie zu Beginn, dass ich mit in den Kindergarten komme und dort bleibe. Ich fand, dass sie das nun allein schaffen muss. Da sagte sie mir, dass es im Kindergarten so wie in einem dunklen Wald sei, mit ganz vielen Bäumen und kein Weg. Da verstand ich, was es war: Sie konnte sich nicht zurechtfinden, fühlte sich verloren, die vielen Eindrücke überforderten sie. Dank der Märchensprache gelang es ihr zu sagen, wie sie sich fühlte. Ich konnte ihr einen Weg aus «diesem Wald» zeigen. Es kam alles gut.
In der heutigen Zeit wirken Märchen altbacken. Frauen sind verletzliche Wesen, die von männlichen Helden gerettet werden. Auch über die Brutalität der Geschichten wurde diskutiert. Wie denken Sie über diese kritischen Ansätze?
Die Kinder identifizieren sich nach wie vor beim Zuhören mit den Protagonisten des Märchens. Egal ob diese weiblich oder männlich sind. Und nicht vergessen: Es gibt starke Frauen in Märchen. Frau Holle zum Beispiel. Oder wenn am Schluss eines Märchens der Prinz die Prinzessin heiraten darf, erzähle ich ab und zu, dass die Prinzessin zum Prinzen sagte: «Hey, möchtest du mich heiraten?» Und die Kinder frage ich: «Was hat er wohl geantwortet?» Solche Auflockerungen sind erlaubt und beliebt. In «Die sieben Raben» schneidet die Schwester zur Rettung ihrer Brüder ihr kleines Fingerchen ab, als Ersatz für den verlorenen Schlüssel. Ich erzähle es inzwischen so, dass das Fingerchen ins Schlüsselloch passt, ohne es abzuschneiden. Denn heutzutage haben Kinder bereits Bilder von Verstümmelungen gesehen und diese sind stärker als die eigenen Seelenbilder. Früher wurden solche Märchenszenen anderes wahrgenommen. Nicht gut finde ich jedoch, wenn bei diesem Märchen, wie ich es auf einem Tonträger gehört habe, erzählt wird: «Da kamen die Zwerge mit einem Sanitätskasten und verbanden die Wunde.» Durch einen solchen Einschub, der wohl gut gemeint war, wird die Szene grausig und brutal.
Auf was freuen Sie sich beim
Zuger Märlisunntig am meisten?
Dass eine Stadt jedes Jahr eine solches Erzählfest ermöglicht und dazu sogar Strassenabschnitte sperrt. An vielen verschiedene Orte wird erzählt. Kinder und Erwachsene haben eine grosse Auswahl. Zusammen Märchen hören ist ein wunderbares zwischenmenschliches Erlebnis. Das finde ich wunderschön.
Renato Cecchet
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