Stadt Zug
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Problematische Phantasien und Präferenzen bleiben trotz chemischer Kastration bestehen.
Die chemische Kastration von Sexualstraftätern ist in der Schweiz erlaubt. Obwohl gesellschaftlich erwünscht, kommt sie aber nur ganz selten zur Anwendung. Das hat gute Gründe.
Die sollte man alle kastrieren! Mit solch markigen Worten drückt manch einer den Wunsch aus, wie man mit pädosexuellen Straftätern und Vergewaltigern umgehen solle. Was auf den ersten Blick logisch scheint, ist auf den zweiten Blick nicht so einfach.
«Wenn wir Kastration im Giesskannenprinzip bei allen Sexualstraftätern anwenden, handeln wir uns Probleme ein. Denn gewisse Personen, macht dies gerade noch aggressiver», warnt etwa Soziologe Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW. «Es ist schlicht ein Irrglaube, dass hinter sexuellen Gewalttaten nur hormonelle Probleme stecken.»
In der Schweiz ist die sogenannte chemische Kastration von Sexualstraftätern gesetzlich erlaubt. Dabei nimmt der Mann ein Mittel, das die Produktion von Sexualhormonen unterdrückt oder deren Wirkung abschwächt. Laut Artikel 434 des Zivilgesetzbuches wäre es hierzulande zwar theoretisch möglich, Straftäter dazu zu zwingen, aber: «Das kommt nicht zu Anwendung», sagt Baier. Die chemische Kastration wird zwar durchgeführt, allerdings nur bei Männern, die willens sind, sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen, und die selbst diese Behandlung wünschen.
Auch die freiwillige Einnahme der Mittel für eine chemische Kastration ist äusserst selten. Gemäss Jérome Endrass vom Zürcher Amt für Justizvollzug bewegt sich die Anzahl Inhaftierter, die einer solchen Behandlung unterzogen werden in seinem Kanton derzeit im einstelligen Bereich. In anderen Kantonen sieht es ähnlich aus.
Psychologin Monika Egli-Alge therapiert seit Jahrzehnten pädophile Straftäter und nicht straffällige Menschen mit solchen Neigungen. Was dabei passiert, erklärt die Leiterin des unabhängigen Forensischen Instituts Ostschweiz Forio so: «Die Kastration wirkt nicht zwischen den Ohren, sondern zwischen den Beinen.»
Die Psychologin begleitet derzeit wenige Inhaftierte, die chemisch kastriert sind. Diesen Männern helfe die Medikation, denn: «Der Triebdruck geht weg.» Egli-Alge räumt aber ein, dass chemische Kastration nur in Einzelfällen angezeigt sei, nur bei einer «astreinen Motivation». Dazu gehöre ein grosses Leiden am eigenen Sexualtrieb. Ausserdem müssten zunächst mildere Möglichkeiten versucht worden sein, etwa die Einnahme von Antidepressiva. Sie erklärt: «Wir haben einige nicht straffällige Betroffene bei uns in Behandlung, die depressiv sind und Antidepressiva nehmen. Diese haben auch einen moderat Libido-hemmenden Effekt. Viele sagen, dass sie das als angenehm empfinden. Weil es dem Trieb die Spitze nimmt.»
Die Anwendung des Mittels in weniger klaren Fällen könne fatal sein: Ein Täter, der wegen der Medikamente kaum noch eine Erektion bekomme, brauche dann immer stärkere Fantasien und eben auch Handlungen, um so weit zu kommen.
Obwohl Baier wie Egli-Alge betonen, dass die chemische Kastration nur ganz selten das beste Mittel ist, um die Gefahr zu bannen, die von einem Täter ausgeht, sind beide überzeugt, dass sie bei wenigen Personen Teil der Lösung sein kann. Die Anwendung setze aber immer enge therapeutische Betreuung und Kontrolle voraus.
Spricht man mit den für Sexualstraftäter zuständigen Experten, könnte der Eindruck entstehen, die chemische Kastration sei fast eine Art psychologische Hilfe für die Täter: Sie müssen damit weniger unter ihren Trieben leiden und finden eher zu innerer Ruhe. Diese Hilfe wiederum hat auch einen besseren Schutz der Gesellschaft zu Folge: Wer unter den richtigen Voraussetzungen chemisch kastriert ist, begeht demnach nämlich keine Straftaten mehr.
Nicht immer wurde die Kastration von Straftätern nur unter den Gesichtspunkten Hilfe für den Täter und Schutz der Gesellschaft betrachtet. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde die chirurgische Kastration, also die operative Entfernung der Hoden, hierzulande noch als Quasi-Sanktion angewendet, wie es der Berner Historiker Urs Germann 2014 in der Studie «Entmannung» oder dauerhafte Verwahrung?» feststellte.
Doch steht diese Massnahme, so selten sie auch angewendet wird, überhaupt auf festem wissenschaftlichen Boden? Untersuchungen zur Wirksamkeit der chemischen Kastration kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen, wie eine Übersichtsstudie vom vergangenen Jahr im Rahmen evidenzbasierter Kriminalprävention in Deutschland aufzeigt. Laut der Autoren lassen zwar manche Studien erhoffen, die chemische Kastration verhindere Rückfälle, andere aber warnen sogar davor. Und wieder andere kommen zum Schluss: Sie hat schlicht keinen Einfluss auf die Rückfallquote. So heisst es im Fazit der Übersichtsstudie, dass «bis heute keine methodisch belastbaren Studien vorliegen, die eine kriminalpräventive Wirksamkeit belegen. Man vermutet ausserdem, dass «der Einsatz von Antiandrogenen möglicherweise eher als Beruhigungsmittel für Entscheidungsträger diene.»
Die deutsche Historikerin Annelie Ramsbrock beschäftigt sich unter anderem mit der Geschichte der Kastration. In Deutschland ist gemäss einem heuer 50 Jahre alten Gesetz sogar die chirurgische Kastration auf freiwilliger Basis noch erlaubt. Ramsbrock vertritt die These, dass die Beibehaltung solcher Gesetze sowie die gesamten Verschärfungen im Sexualstrafrecht auch Ausdruck eines gewissen Populismus sind. Es fragt sich also, ob Politiker mit der Kastration nicht einfach eine Waffe vorweisen wollen, die unbeliebteste Tätergruppen wie Pädosexuelle und Vergewaltiger – scheinbar – ausser Gefecht setzen.
Judith Hochstrasser
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