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Ein Jesusbild entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Collage aus Tausenden kleinen Bildern von weiblichen Brüsten: Gilles Tschudi spielt den Wärter, der das Kunstwerk bewachen soll. Für den Schauspieler und Regisseurin Julia Heinrichs wirft das Theaterstück brandaktuelle Fragen auf.
Nur schon der Titel des Stücks klingt provokant. Haben Sie keine Angst, dass es im katholischen Kanton Zug zu Anfeindungen kommen wird?
Julia Heinrichs: Nein, gar nicht. Es ist ein sehr respektvolles Stück. Der Glaube wird dabei nicht diffamiert.
Gilles Tschudi: Der Kanton Zug ist als ziemlich liberal bekannt. Ich habe darum keine Bedenken.
Sieht man das Bild im Stück?
Heinrichs: Nein, das Jesusbild entsteht in der Fantasie der Zuschauer. Wie auch die Personen, die der Hauptdarsteller beschreibt. Das ist ja das Schöne an diesem Text von Nick Hornby, er ist sehr bildhaft erzählt und regt die Gedankenwelt an.
Wenn ich die Geschichte richtig verstanden habe, dann geht es darum, was Kunst darf – und was nicht.
Heinrichs:Ja, und auch, was wir als Kunst empfinden – und was nicht. Und wie individuell die Wahrnehmung davon ist. Kunst steckt man schnell in Schubladen, wie Menschen übrigens auch. Dabei hat jeder seine eigene Wahrnehmung, die durch seine Werte und Normen geprägt ist. Jeder hat seine eigene Weltsichtbrille, die ihn dazu verleitet, die Dinge zu vergleichen, zu beurteilen oder sogar zu verurteilen, anstatt zu beobachten, zuzuhören und nachzuempfinden.
Tschudi: Es ist ein schwieriges Thema. Das hat man ja schon bei den Mohammed-Karikaturen gemerkt. Oder bei uns in der Schweiz während der Pandemie, als Komiker plötzlich angefeindet wurden.
Heinrichs:Ja, das Thema ist aktueller denn je. Es geht auch darum, was man in der Gesellschaft überhaupt noch sagen darf.
Tschudi:Je moralischer sich eine Gesellschaft verhält, desto mehr wird die Kunst eingeschränkt. Und eigentlich müsste für die Kunst die Narrenfreiheit gelten. Aber eine Gesellschaft kann nur gut mit Narren umgehen, wenn sie sich sicher fühlt. Aber heutzutage werden die Menschen ja immer unsicherer.
Es gab jetzt schon zwei Fälle in der Schweiz, bei der Bands nicht auftreten durften, weil ein Mitglied, jeweils ein weisser Mann, Rastalocken trug. Man spricht von kultureller Aneignung...
Heinrichs:Ich verstehe die Diskussion nicht. Ich finde es schwierig, wenn man nur in einer Richtung von Aneignung spricht.
Tschudi:Dann wäre ja auch jede Übersetzung eines Theaterstücks schon kulturelle Aneignung. Das ist absurd. Man merkt, wie destabilisiert und unsicher die Menschen sind, die auf solchen Dingen bestehen.
Woher kommt diese Unsicherheit?
Heinrichs: Das hat sicher auch mit den Medien und besonders mit den sozialen Medien zu tun. Heute kann ein Shitstorm ein ganzes Leben ruinieren. Früher konnte man für einen Fehler gerade stehen, sich entschuldigen und dann war wieder gut. Aber heute wird auch alles festgehalten, diesen Makel bekommt man nicht mehr weg. Da wollen halt viele Leute politisch überkorrekt sein.
Tschudi: Die Leute sind verunsichert, das führt auch zu einem Identitätsverlust. Die Pandemie, der Ukraine-Krieg, jetzt die Energiekrise: Den Menschen wird der Boden unter den Füssen weggerissen, sie werden haltlos und haben Angst, etwas Falsches zu machen. Es gibt Leute, die im Freien mit Maske rumlaufen oder solche, welche in der Schweiz die Tür verriegeln, weil in der Ukraine ein Krieg tobt. Die Menschen werden richtig infiltriert mit der Idee, dass ständig Gefahr droht.
Heinrichs: Es hat auch mit der Art und Weise zu tun, wie wir miteinander kommunizieren. Allgemein nimmt in der Gesellschaft die Diskursfähigkeit ab. Aber wenn man nicht gewillt ist, gut zuzuhören, und Standpunkte respektvoll auszutauschen, dann entsteht auch keine belebende Diskussion, sondern die Fronten verhärten sich, egal bei welchem Thema. Und so bilden sich Gruppen, zu denen man entweder gehört oder eben nicht. Man ist dafür oder dagegen. Dazu kommt, dass die Durchlässigkeit abnimmt. Es gibt immer mehr undifferenzierte Pauschalstandpunkte, welche die Menschen in Gruppen teilen. Dasselbe passiert übrigens auch in der Kunst. Künstler und Künstlerinnen werden zum Beispiel aufgrund ihrer Identität in Gesinnungs-Schubladen gepackt. So geht es häufig nicht mehr zentral um die Kunstinhalte.
Tschudi:Wenn die Leute nicht mehr reden können, wenn sie nicht mit Worten umgehen können, dann schlagen sie zu. Bei «Nipple Jesus» wird dieses Thema auch aufgegriffen: Wenn jemand etwas nicht mehr thematisieren kann, wenn er in seiner Moral verhärtet ist, dann ist er überfordert – und sucht die Zerstörung.
Kann die Kunst für solche Konflikte auch Lösungen anbieten?
Heinrichs: Ich glaube, der erhobene Zeigfinger wäre kontraproduktiv. Ich möchte die Menschen viel lieber zum Nachdenken einladen, zum Reflektieren – über sich und andere. Man muss gegenüber den anderen auch offen sein. Darum bieten wir nach jeder Aufführung auch eine Diskussion an.
Tschudi: Die Möglichkeit, miteinander zu reden, gehört zum Konzept von «Nipple Jesus». Denn sich mitzuteilen ist ein menschliches Bedürfnis. Dieses Bedürfnis hat im Übrigen auch die Hauptfigur des Stücks. Aber man muss auch respektieren, dass andere Menschen vielleicht eine andere Wahrnehmung haben als man selbst, sonst schlägt man sich die Köpfe ein. Es gibt so viele Wahrheiten wie Menschen. Heute wird viel zu oft versucht, einen Allgemeinstandpunkt zu vermitteln. Doch dabei verliert man seinen eigenen Blickwinkel.
Die Hauptfigur des Stücks ist ein Museumswärter. In Zug spielen Sie «Nipple Jesus» in einer Galerie.
Heinrichs: Ja, diese Verknüpfung von Theater und bildender Kunst fand ich besonders spannend. Man kann so verschiedene Kunstformen miteinander verbinden. Plötzlich begeistert sich ein Galeriebesucher für Theater und ein Theatergänger interessiert sich für Kunst. Das ist etwas Schönes.
Tschudi:Die Idee wurde natürlich auch aus der Not geboren. Während der Pandemie wurden die Theater geschlossen und als Künstler hat man dann nach Alternativ-Möglichkeiten gesucht, wie man trotz Beschränkungen weiterarbeiten kann, wenn auch im kleineren Rahmen. Aber ich finde das sehr spannend. Als Schauspieler bin ich so direkt beim Publikum.
Heinrichs: Mich hat es schon immer gereizt, andere Bühnenformen auszuprobieren, ich bin auch privat sehr kunstaffin und wollte dieses Stück schon sehr lange machen. Und es macht jetzt sehr viel Spass, an so vielen verschiedenen Orten zu spielen, jedes Museum, jede Galerie ist ja anders. Und bei dieser Bühnensituation spürt man die Zuschauer besonders gut.
Tschudi:Ja, es ist jedes Mal anders. Als Schauspieler muss ich dann auch immer auf die neuen Situationen reagieren. Das macht es für mich sehr spannend. Es ist eine belebende Herausforderung.
«Nipple Jesus» von Nick Hornby: Am 2. September ab 19 Uhr in der Galerie Winkler, Untere Altstadt 3 in Zug. Tickets unter: info@galeriewinkler.com.
Andy Stauber
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