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Tränen sind die einzige Körperflüssigkeit eines Fremden, die keinen Ekel auslöst. Sie sind der soziale Klebstoff, der uns zusammenhält, sagt der Psychologe und Tränenforscher Ad Vingerhoets.
Eine Stierkampf-Szene sorgte letzten Sommer für Aufruhr: Der Matador wischte einem Stier eine Träne ab, kurz bevor er ihm den Todesstoss versetzte. Hat dieser Stier tatsächlich geweint?
Solche Anekdoten höre ich immer wieder. Es gibt auch Videos von weinenden Elefanten. Aber das sind alles Beispiele, bei denen man nicht ausschliessen kann, dass die Tiere eine Augeninfektion oder einen anderen Grund zum Weinen haben. Wir gehen davon aus, dass nur Menschen emotionale Tränen vergiessen.
Das sind Tränen, die nicht durch einen Reflex, etwa beim Schälen einer Zwiebel oder durch einen Staubpartikel ausgelöst werden, sondern eben durch Emotionen.
Anfangs weinen wir aus Frustration, wegen einer Trennung oder bei körperlichen Schmerzen. Das Weinen wegen Schmerzen nimmt bei Erwachsenen im Laufe des Lebens stark ab. Gleichzeitig werden andere Gründe wichtiger: Wir weinen aus Empathie, Sympathie und aus Rührung.
Tränen werden oft nur als ein Symp-tom der Traurigkeit betrachtet. So wie schweissnasse Hände und zitternde Knie ein Symptom von Angst sind. Aber ich bin der Auffassung, dass Tränen mehr sind als ein Symp-tom. Sie sind ein Sozialverhalten an sich und dienen als sozialer Klebstoff. Früher kamen die Menschen im Katastrophenfall zusammen, beteten, sangen – oder weinten zusammen. Auch heute machen wir das, etwa nach einem Terroranschlag. Emotionale Tränen können wir zwar nicht steuern, aber sie signalisieren dem anderen unbewusst ‹ich brauche dich›, und sie helfen somit, Menschen miteinander zu verbinden.
Meine Hypothese ist, dass emotionale Tränen entstanden, weil der Mensch im Gegensatz zu allen anderen Tieren eine sehr lange Kindheit hat. Anfangs zeigen Säuglinge ein tränenloses Stimmgeschrei, wenn sie den Kontakt zur Mutter verlieren. Das ist zwar effizient, um auch bei dichter Vegetation und in der Dunkelheit die Mutter zurückzubringen. Aber das Problem ist: Die Mutter ist nicht die einzige, die dieses Weinen hört. Es kann auch andere Menschen mit bösen Absichten oder Raubtiere alarmieren. Ab dem Moment, wo das Kind mobil ist, braucht es kein akustisches Signal mehr. Es ist daher gut, ein rein visuelles Tränensignal zu haben, das gezielt auf eine bestimmte Person ausgerichtet werden kann.
Bei diesen positiven Tränen ist es nicht so offensichtlich, aber auch sie haben eine Funktion. In solchen Filmen geht es häufig um ganz bestimmte Themen: etwa Aufopferung, Wiedervereinigung, Kameradschaft. Es handelt sich meist um tugendhafte Situationen. Ich nenne Tränen, die man in solchen Momenten vergiesst, moralische Tränen. Wenn wir in solchen Situationen weinen, signalisieren wir anderen: ‹Ich bin ein guter Mensch›.
Menschen haben eine unterschiedlich hohe Weinschwelle. Die ist weitgehend genetisch bedingt. Das haben wir bei Studien mit Zwillingspaaren herausgefunden. Eineiige Zwillinge, die exakt dieselben Erbanlagen tragen, hatten eine ähnliche hohe Weinschwelle. Zweieiige Zwillinge, die unterschiedliches Erbgut tragen, unterschieden sich auch stärker in ihrer Neigung zum Weinen.
Es gibt Beweise, dass die Weinschwelle durch das männliche Geschlechtshormon Testosteron erhöht wird. Dass Frauen generell mehr weinen als Männer, haben alle Studien zum Thema gezeigt. Dabei ist der Unterschied zwischen Mann und Frau gering, wenn es um Verlust, Trennung oder Heimweh geht. Aber Frauen weinen deutlich mehr als Männer, wenn sie eine machtlose Wut erleben oder generell in Konfliktsituationen.
Ja, solche, die an einer schweren Depression leiden oder eine traumatische Erfahrung gemacht haben.
Ob man sich nach dem Weinen besser fühlt, hängt von drei Faktoren ab: Menschen, die depressiv sind oder ein Burnout haben, fühlen sich nach dem Weinen nicht besser. Und es hängt davon ab, ob wir die Situation kontrollieren können: Weinen beim Film bringt mehr Besserung als beim Tod eines geliebten Menschen. Einer der wichtigsten Faktoren ist jedoch die Reaktion anderer: Wenn sie mit Verständnis reagieren, dann geht es uns nach dem Weinen besser.
Cornelia Eisenach
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